Dezember 2024
Heilige Ceremonien Gottes-und Götzen-Dienste aller Völcker der Welt
3 Bände
David Herrliberger (Verleger)
Zürich und Basel, 1744-1751
Evangelische Kirchenbibliothek St. Dionys, Esslingen EK 332 + 333
In den Jahren 1722/23 erschien ein epochemachendes Werk in Amsterdam, das im Zeichen der Aufklärung ein neues Licht auf die Religionen und Kulturen der Welt warf. In den „Heiligen Ceremonien“ führten der Exilfranzose und vielbewunderte Kupferstecher Bernard Picart (1673-1733) als Illustrator und Jean Frédéric Bernard (1680-1744) als leitender Redakteur und Herausgeber dem europäischen Publikum die religiösen und gesellschaftlichen Riten und Gebräuche in aller Welt mit kommentierten Illustrationen vor Augen. Sein Werk musste im Ausland, in Amsterdam erscheinen, da die absolutistische Herrschaft in Frankreich unter König Louis XIV die Veröffentlichung religions- und regimekritischer Werke zu verhindern suchte.
Die umfassende und vergleichende Bebilderung ist bemerkenswert. Neben den religiösen Vorgängen im engeren Sinne, beispielsweise der gottesdienstlichen Riten, waren die Sitten und Gebräuche, die mit den wichtigen Anlässen des menschlichen Lebens zusammenhängen, detailliert dargestellt und beschrieben. Auch mit heutigen Augen gesehen ist diese Veranschaulichung imposant und trotz des nicht zu übersehenden europäischen Blicks lehrreich. Einerseits erschienen zum Beispiel die Buß-Riten und Strafen in befremdlicher Grausamkeit, andererseits ermöglichten die zahlreichen Illustrationen einen verständnisvollen Einblick in fremde Lebensformen. Es wird vermutet, dass Picart in einigen Fällen authentische Quellen in Form von graphischen oder gegenständlichen Vorlagen aus Indien, China, Japan oder Mexiko zur Hand hatte.
Auch in Esslingen war das Werk trotz des hohen Preises auf Interesse gestoßen. Die zwei Bände in der Esslinger Kirchenbibliothek entstammen einer Neuauflage von 1744 und wurden wohl zeitnah nach deren Erscheinen angeschafft. Unter Verwendung von Vorsatzblättern aus zeitgenössischer Produktion wurden sie vor Ort gebunden.
Zur Neuauflage kam es, da von der ursprünglichen Ausgabe der „Cérémonies“ samt Teil-Nachdrucken nach dem Tode Picarts 1733 und seiner Frau Anna 1736 kaum mehr etwas auf dem Markt zu finden war. Die Erben ließen das noch vorhandene Material (Druckplatten und Drucke) versteigern. Der Kupferstecher und Verleger David Herrliberger (1697-1777) entschloss sich 1738, in seiner Züricher Heimat einen Teil – nämlich den über die Protestanten – in gekürzter und übersetzter Form herauszubringen. Ab 1744 folgte dann eine neu konzipierte Gesamtausgabe: Im Vergleich zu Picarts Fassung waren die kritischen, kommentierenden Texte (Dissertations) stark reduziert worden. Außerdem erschien das Werk in Lieferungen (den so genannten Ausgaben) für je 1½ bis 2 Gulden, um eher erschwinglich zu sein.
Darüber hinaus wurde die Anordnung der Teile geändert. Der erste Teil befasst sich nun mit den „Heilige[n] Ceremonien und Kirchen- Gebräuche[n] der Christen in der ganzen Welt“, d.h. Protestanten, Anglikaner und besondere religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften, Orthodoxe und Katholiken. Der zweite Teil handelt von „Gottesdienstliche[n] Ceremonien oder H. Andachts-Übungen und Religions-Pflichten der Juden, Türken [d.h. Muslime] etc.“ Der dritte Teil trägt den Titel „Heilige Ceremonien, oder Religions-Übungen der abgöttischen Völker der Welt“ und meint damit den chinesischen Kulturkreis, dann den japanischen, persischen, afrikanischen und schließlich den amerikanischen.
Die 540 Kupferstichabbildungen von Picart stach Herrliberger exakt nach; nur bei nebensächlichen Details zum Beispiel den Schraffuren kann man gelegentlich Unterschiede erkennen. 1750/51 schließlich ließ Herrliberger eine zweigeteilte Ergänzung über die religiösen Verhältnisse im Züricher Gebiet erscheinen; für die Illustration verwendete er dabei eigene Entwürfe.
Albrecht Braun, Kustos der Esslinger Kirchenbibliothek